Praxis Dr. med. Klaus Reitberger
Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde
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Klassifikation nach ICD-10 | |
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H91.2 | Hörsturz, idiopathisch |
ICD-10 online (WHO-Version 2019) |
Ein Hörsturz oder idiopathischer Hörsturz,[1][2] auch Ohrinfarkt,[3] ist eine ohne erkennbare Ursache (idiopathisch) plötzlich auftretende, meist einseitige Schallempfindungsstörung. Der Hörverlust kann beim Hörsturz von geringgradig bis zur völligen Gehörlosigkeit reichen, er kann alle Frequenzen betreffen oder nur auf wenige Frequenzbereiche begrenzt sein. Hörstörungen mit erkennbarer Ursache sind gemäß dieser Definition kein Hörsturz. Der Verlauf des Hörsturzes ist sehr unterschiedlich; bekannt ist eine relativ hohe Rate der Spontanheilung. Eine zuverlässige Prognose gelingt nach gegenwärtigem Kenntnisstand nicht. Eine wirksame medikamentöse Therapie ist nicht bekannt.[4] Andere Behandlungsmaßnahmen stehen in der Diskussion.
Charakteristisch und definierend ist ein plötzlicher, meist einseitiger Hörverlust. Auslösende oder verursachende Faktoren lassen sich nicht feststellen. Die Diagnose Hörsturz ist also eine Ausschlussdiagnose. Der Hörsturz ist niemals von Ohrenschmerzen begleitet. Einseitiges Druckgefühl und Ohrgeräusch (Tinnitus, in 80 % der Fälle, meist hochfrequent) im betroffenen Ohr können Vorboten sein. Die Hälfte der Patienten gibt „wattige“ oder betäubte Hautempfindungen an (durch die fehlende akustische Rückkoppelung bei Berührung der Ohrmuschel; echte Hypästhesie besteht nicht). 30 % klagen über Schwindelgefühl, 15 % über Doppeltonhören (Diplakusis: ein Ton wird auf dem erkrankten Ohr höher oder tiefer gehört) und Lärmempfindlichkeit (Hyperakusis).
Tra Ban Huy[5] fordert für die Diagnose
Neben der Befragung werden verschiedene Untersuchungen zur Funktionsfähigkeit des Ohres durchgeführt. Mit der Otoskopie werden Gehörgang und Trommelfell untersucht. Der Weber-Test lateralisiert ins gesunde Ohr, der Rinne-Test ist beidseits positiv. Die Funktionstüchtigkeit des Mittelohres wird mit der Tympanometrie überprüft. Mit der Tonaudiometrie werden Ausmaß und Frequenzbereich des Hörverlustes bestimmt. Otoakustische Emissionen (OAE) erlauben ggf. den Nachweis einer Erkrankung des Hörnervs. Bildgebende Verfahren wie die Magnetresonanztomographie und die Computertomographie können Tumoren wie das Akustikusneurinom, zerebrale Durchblutungsstörungen und Infektionen darstellen. Die Hirnstammaudiometrien (BERA, BAER) suchen Erregungsbehinderungen vom Innenohr bis zum Hirnstamm. Blutuntersuchungen können ggf. Ursachen von Durchblutungsstörungen wie Hyperviskosität, Anämie, Hyperlipidämie, Thrombophilie und Entzündungen aufdecken. Der Blutdruck sollte gemessen werden. Elektrokardiographie und Echokardiographie können Herzerkrankungen nachweisen.
Eine plötzliche Hörstörung kann Symptom anderer Erkrankungen sein. Einige Beispiele:
Der Entstehungsmechanismus von Hörstürzen konnte bisher noch nicht geklärt werden. Vermutet wird ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die zu einer Änderung der Durchblutungsverhältnisse am Innenohr führen. Hier befinden sich die Haarzellen, die für das Hören zuständigen Sinneszellen. Die Haarzellen werden durch Diffusion aus der Umgebung mit Substraten unter Einschluss von Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Eine Mangeldurchblutung in den Blutgefäßen der Hörschnecke führt zu einer Schädigung der Haarzellen. Allerdings konnten in Untersuchungen an Innenohren von Hörsturzpatienten, die ihr Organ nach ihrem Tod der Wissenschaft zur Verfügung stellten, keine Hinweise auf solche Durchblutungsstörungen festgestellt werden.[20]
Darüber hinaus werden Stress, Autoimmunerkrankungen[21][22][23][24][25][26] und Risse der Rundfenstermembran als Ursachen diskutiert.
Zu dem Zusammenhang zwischen Virusinfektionen und Hörsturz sind widersprüchliche Untersuchungsergebnisse veröffentlicht worden.[27][28][29][30]
Systematische prospektive Untersuchungen von Risikofaktoren sind noch nicht veröffentlicht worden. Gefährdet sind laut Ansicht mancher Experten insbesondere Personen mit Übergewicht, Bluthochdruck, Diabetes mellitus und Fettstoffwechselstörungen sowie Raucher. Auch Stress könnte ein Risikofaktor sein.[31]
Nach Untersuchungen von Klemm und Saarschmidt (1986),[32] Michel,[33] und Leins[34] sind in Deutschland bis 16.000 Menschen pro Jahr (bis 20 pro 100.000) von einem Hörsturz betroffen. In den USA bestand 1984[35] eine Inzidenz von 5–20 pro 100.000; 1996[36] in Flandern und in den Niederlanden 8–14 pro 100.000.
Männer und Frauen sind vom idiopathischen Hörsturz annähernd gleich betroffen. Alle Altersstufen können vom idiopathischen Hörsturz betroffen sein. Kinder und Jugendliche sind sehr selten betroffen, 75 % aller Patienten sind bei Diagnose älter als 40 Jahre.[37] Anderen Quellen zufolge treten 60 % aller idiopathischen Hörstürze zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr auf.[38]
Es existieren mehrere Behandlungsmethoden, denen allen gemein ist, dass sie fachlich mehr oder weniger umstritten sind.[39][40] Die Cochrane Collaboration hat Beurteilungen verschiedener Hörsturz-Behandlungen erstellt.[41]
Ein wissenschaftlich gut gesicherter Therapieansatz steht zwar aktuell nicht zur Verfügung, da die Ursache bzw. die Ursachen des Hörsturzes noch unklar sind. Es zeichnet sich jedoch ab, dass sich die Therapie, insbesondere aufgrund der Erfahrungen aus den USA, aktuell auf den Einsatz von Glukokortikoiden konzentriert. Ein Konsenspapier aus Sicht der deutschsprachigen HNO-Ärzte stellen die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie[42] dar. Es wird dort die Therapie mit hochdosierten Glucocorticoiden (z. B. Prednisolon 250 mg) vorgeschlagen:
„Die Kommission empfiehlt als primäre Behandlung des akuten idiopathischen sensorineuralen Hörverlustes nach Abwägung der Nebenwirkungen eine systemische, hochdosierte Glukokortikoidtherapie. Um systemische Nebenwirkungen zu vermeiden, kann diese nach Absprache mit dem Patienten alternativ auch primär als intratympanale Behandlung erfolgen. Bei ungenügendem Erfolg der systemischen Erstbehandlung wird empfohlen, den Patienten eine intratympanale Glukokortikoid-Therapie anzubieten.“
Auch eine „gepulste“ Hochdosis-Glucocorticoid-Therapie ist denkbar und nach Datenlage einer Studie von 2007 gleich wirksam.[43]
Die spontane Besserungsrate der Erkrankung ist in verschiedenen Studien unterschiedlich hoch angegeben worden und anscheinend je nach Stärke des Hörausfalls und auch der Tonhöhe unterschiedlich.[44][45][46] Die berichteten Spontanheilungsraten sind aber sehr unterschiedlich: Weinaug berichtet 1984 eine Spontanheilungsrate von 68 % bei 63 Patienten. Heiden u. a. berichten in einer Literaturanalyse im Jahr 2000 von Spontanheilungsraten zwischen 28 und 68 %, gepoolt 50 %. Schuknecht gibt 40 bis 60 % an.
Die Diskussion um eine geeignete Therapie beruht auch auf der Problematik der aktuell eher „dünnen“ Studienlage. Wirksame Heilverfahren sollten signifikant besser als Placebo sein.[47] Aus ethischen Gründen[48] wird aber meist nicht mit Placebo, sondern mit einer anderen Behandlungsmethode verglichen. In zwei placebokontrollierten Studien, die modernen wissenschaftlichen Standards entsprachen, erzielten durchblutungsfördernde Medikamente keine besseren Ergebnisse als Infusionen mit Kochsalzlösung.[49][50][51] Systemisch applizierte Corticosteroide waren in 21 randomisiert-kontrollierten Studien, die zwischen Januar 1996 und Februar 2006 veröffentlicht wurden, nicht wirksamer als Placebo, auch nicht in Kombination mit Virustatika.[52][53] Eine Metaanalyse der Cochrane Collaboration aus dem Oktober 2009 kam zu dem Ergebnis, dass auch die Wirkung von Vasodilatoren auf einen Hörsturz unbewiesen ist. Aufgrund reduzierter Aussagekraft der vorhandenen Studien wird zu weiterer Forschung geraten.[54]
Unter der Annahme, dass ein Hörsturz durch eine Durchblutungsstörung des Innenohres verursacht wird, wird im deutschsprachigen Raum zumeist rheologisch behandelt, z. B. mit Infusionen aus Lösungen von Hydroxyethylstärke (HES), Pentoxifyllin oder niedermolekularen Dextranen über zehn Tage.[42] Zu niedermolekularen Dextranen wird zusätzlich Haptendextran verabreicht, um die Wahrscheinlichkeit potenziell schwerer Schockreaktionen zu verringern.[55] Erheblich seltener kommen Substanzen wie Piracetam oder Prostaglandine bzw. Prostazykline wie Alprostadil[56] und Iloprost zum Einsatz.[57] Naftidrofuryl oder Ginkgo biloba wurden in Ampullenform Mitte der 1990er Jahre wegen schwerer Nebenwirkungen vom deutschen Markt genommen.[58][59]
Für die Infusionstherapie werden in Deutschland ca. 500 Millionen Euro pro Jahr aufgewendet.[60] Im angloamerikanischen sowie im skandinavischen Raum ist die rheologische Infusionstherapie beim Hörsturz unüblich.[48][61]
Kopfschmerzen, Magendruck, Harndrang oder Schlafstörungen sind – je nach verwendetem Mittel – häufige Nebenwirkungen der Infusionen. Seltenere schwere Nebenwirkungen, darunter anaphylaktischer Schock durch Pentoxifyllin[62] oder niedermolekulare Dextrane[55] können auftreten. Wenn Hydroxyethylstärke gegeben wird, kann sich die Substanz insbesondere nach längerfristiger Anwendung (bei der Überschreitung einer Gesamtmenge von ca. 300 g HES) in der Haut anreichern und zu sehr lästigem Juckreiz führen, der schwer zu behandeln ist und lange anhalten oder gar therapieresistent sein kann. Die aktuellen Leitlinien betonen deshalb, die Behandlung könne nicht vorbehaltlos empfohlen werden.[42]
Durchblutungsverbessernde Substanzen können auch in Tabletten- oder Kapselform eingenommen werden. Dazu gehören Naftidrofuryl,[63] Ginkgo-biloba-Extrakte, Buflomedil, Betahistin, Cinnarizin und Pentoxifyllin.[64] Auch Blutdrucksenker mit gefäßerweiterndem Effekt wie Nifedipin oder Nimodipin[65] sind bei Hörsturz eingesetzt worden. Der Einsatz ausschließlich gefäßerweiternder Medikamente wird jedoch aufgrund des möglichen Steal-Effekts, durch den die Durchblutung des Innenohrs unbeabsichtigt sogar verringert werden kann, nicht mehr empfohlen.[66]
Welche wissenschaftlichen Belege für oder gegen die durchblutungsfördernde Infusionstherapie beim Hörsturz vorliegen, hat 2017 der IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes Bund untersucht. Da die in Frage kommenden Studien zeigten, dass behandelte Patienten am Ende nicht besser hörten als Kontrollpatienten, die verwendeten Mittel (Pentoxifyllin und Dextran) aber zweifelsfrei Nebenwirkungen hätten, bewertet der IGeL-Monitor die durchblutungsfördernde Infusionstherapie beim Hörsturz mit „negativ“.[67] Der IGeL-Monitor stützt sich für seine Bewertung auf zwei Studien,[68] in denen die durchblutungsfördernden Mittel Pentoxifyllin und Dextran untersucht wurden. Die Studienteilnehmer in den Vergleichsgruppen erhielten eine Kochsalzlösung. Das Ergebnis: In keiner der beiden Studien verminderte die Gabe der Wirkstoffe den Hörverlust besser als die Infusion mit Kochsalzlösung.[69] Auch die entsprechende ärztliche Leitlinie empfiehlt diese Art der Hörsturz-Therapie nicht.[70] Blutgefäßweitende Mittel könnten ebenso wenig empfohlen werden wie Hydroxyethylstärke (HES)-haltige Lösungen und zu Pentoxifyllin gebe es keine aussagekräftigen Studien.
Der Einsatz von Glucocorticoiden basiert auf deren entzündungshemmender und das Immunsystem unterdrückender Wirkung. Auch ein abschwellender Effekt könnte von Bedeutung sein. Es werden vorwiegend Prednison, Prednisolon und Methylprednisolon, selten auch Dexamethason eingesetzt. Die Substanzen können als Tabletten geschluckt, oder injiziert werden; dies sind systemische Anwendungsformen in Abgrenzung zur lokalen (örtlichen) Behandlung. Die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie[42] empfiehlt aktuell ausdrücklich den Einsatz hoch dosierter Glucocorticoide (Prednisolon) in systemischer Form. Bei Ausbleiben des Therapieerfolges soll eine Injektion in das Ohr erfolgen.
Bei Patienten mit schwer einstellbarem Blutdruck, Schwangeren, Zuckerkrankheit mit Insulintherapie oder Magengeschwüren muss das Risiko gegenüber dem unbewiesenen Nutzen abgewogen und gegebenenfalls die Dosierung verändert werden. Eine 2012 veröffentlichte Untersuchung stellte bei 21 % der nicht unter Diabetes leidenden Hörsturzpatienten und bei 63 % der Diabetiker nach der Cortisontherapie Hyperglykämien fest.[71] Corticosteroide können auch neuropsychiatrische Symptome verursachen.[72]
Mit lokaler Verabreichung von Corticosteroiden direkt in die Rundfensternische konnte eine kleine randomisierte Studie keine signifikant besseren Ergebnisse als Placebo finden.[73] Eine weitere, neuere Studie ergab weder Vor- noch Nachteile im Vergleich zur systemischen (oralen) Therapie.[74]
Als „tendenziell negativ“ bewertet der IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes Bund Glukokortikoide beim Hörsturz.[75] Zwei Übersichtsarbeiten zeigten übereinstimmend, dass eine systemische Gabe von Glukokortikoiden die Hörfähigkeit nicht schneller zurück bringe als die Gabe eines Scheinmedikaments. Wichtigste Quelle des IGeL-Monitor ist ein Cochrane-Review von 2013.[76] Es gebe also keine Hinweise auf einen Nutzen, aber Hinweise auf Schäden.[77] Die Bewertung bezieht sich nur auf die systemische Gabe als Tabletten oder als Infusion, nicht auf die lokale Gabe von Glukokortikoiden (Entzündungshemmern) direkt ins Ohr. Die S1-Leitlinie zum Hörsturz aus dem Jahr 2014 räumt ein, dass die maßgeblichen Übersichtsarbeiten den Stellenwert der Therapie als unklar einschätzen. Auch habe niedrig dosiertes Prednisolon in einer hochwertigen Studie keine Wirksamkeit gezeigt. Die Leitlinie folgert: „Deshalb wird empfohlen, als initiale Therapie des Hörsturzes höher dosierte Glukokortikosteroide einzusetzen. Die Glukokortikoid-Therapie sollte 3 Tage mit jeweils 250 mg Prednisolon oder einem anderen synthetischen Glukokortikosteroid mit äquivalenter Dosierung durchgeführt werden.“[78]
In Deutschland gibt es das sogenannte Stennert-Schema (Eberhard Stenner, geb. 1938) und Modifikationen davon. Dabei kommen drei Medikamente zum Einsatz: als Corticosteroid Prednison, Prednisolon oder Methylprednisolon, Pentoxifyllin, und Dextran oder Hydroxyethylstärke. Die Verabreichung der Corticosteroide erfolgt dabei über einen Zeitraum von 14 bis 21 Tagen, die Tagesdosis wird schrittweise alle 2 bis 3 Tage abgesenkt. Andere Dosierungsschemata sind kürzer, z. B. 200 mg Prednisolon am Tag 1, 150 mg am Tag 2, 100 mg am Tag 3 und 50 mg am Tag 4. Bisher konnte nicht nachgewiesen werden, dass die Kombinationsbehandlungen besser als Monotherapien oder Placebo wirken.[79][80]
Im deutschsprachigen Raum werden beim Hörsturz – insbesondere in Verbindung mit Tinnitus[81] – mitunter neben durchblutungsfördernden Medikamenten zusätzlich Lokalanästhetika wie Lidocain oder Procain intravenös verabreicht. Da diese Substanzen Krampfanfälle, Atemlähmung und Herz-Kreislaufversagen verursachen können, sollte diese Therapie im Krankenhaus erfolgen.[66] Der Nutzen ist umstritten. Zwar können chronische Ohrgeräusche durch die intravenöse Gabe von Lidocain gemildert werden, doch die Wirkung lässt nach kurzer Zeit wieder nach.[82] Ein wissenschaftlicher Nachweis für einen dauerhaften Effekt bei akutem Tinnitus oder beim Hörsturz existiert nicht. Der Medizinische Dienst der Krankenversicherungen sah 2004 aufgrund potenziell lebensbedrohlicher Nebenwirkungen die Anwendung lokaler Betäubungsmittel bei Erkrankungen des Innenohres „mit großer Sorge“.[83]
Die Apherese ist ein Blutreinigungsverfahren, bei dem über eine Fällungsreaktion Fibrinogen aus dem Blut reduziert wird. Zusätzlich kommt es zu einer Reduktion des LDL-Cholesterins und des Lipoproteins (a).[84]
Die Anwendung der HELP-Apherese (Heparin-induzierte extrakorporale LDL-Präzipitation) beim Hörsturz in der Frühphase der Erkrankung gründet sich auf Studien bis zur Evidenzklasse 1b: Eine 2002 veröffentlichte prospektive, randomisierte, multizentrische Studie legt nahe, dass Patienten mit erhöhtem Plasma-Fibrinogen-Spiegel über 295 mg/dl möglicherweise im Vergleich zur Standardtherapie profitierten.[85] Langfristig gesicherte Daten zur Wirksamkeit liegen nicht vor, die AWMF-Leitlinie zur Therapie des akuten Hörsturzes von 2014 erwähnt dieses Verfahren nicht.
Der zuständige Arbeitsausschuss kam 2013 zu dem Beschluss, es mangele an Beweisen für die Wirksamkeit dieser Behandlung und kritisiert zudem die Qualität der oben genannten Untersuchung:
„Bei den wissenschaftlichen Veröffentlichungen handelt es sich vor allem um die der Arbeitsgruppe Suckfüll u. a., aus denen jedoch kein valider Nachweis des Nutzens geführt werden konnte […] Nach detaillierter Beratung der Unterlagen und ihrer Auswertung kommt der Ausschuss zu der einvernehmlichen Auffassung, dass der Nutzen der Apherese bei dieser Indikation vor dem Hintergrund der ungenügenden Datenlage nicht als belegt gelten kann. Eine Aufnahme in die vertragsärztliche Versorgung wird abgelehnt.“
Die hyperbare Sauerstofftherapie (HBO) beruht auf mehrfachem Aufenthalt in einer medizinischen Druckkammer, wobei reiner Sauerstoff unter erhöhtem Umgebungsdruck eingeatmet wird. Der Erfolg dieser Therapie ist umstritten; er wird von Befürwortern mit ca. 50 Prozent angegeben.[87][88][89][90] Eine randomisierte Studie[91] stellt fest, dass Infusionstherapie und HBO gleichwertig sind. Auch wenn andere, gleichartige Studien die HBO mit Vorteilen bewerten,[92][93] ergibt sich daraus, dass zunächst die wirtschaftlicheren Therapieoptionen zur Anwendung kommen sollten und die HBO eine „Reservetherapie“ sein sollte (Empfehlung des Verbandes Deutscher Druckkammerzentren VDD e. V. und bei Arnold 2010).[94][95] Die Leitlinien der amerikanischen wissenschaftlichen Fachgesellschaft für HNO wurden 2011 zur HBO ergänzt.[96] Der Cochrane-Review fasst im Oktober 2012 die Studienlage wie folgt zusammen:
“For people with acute ISSHL, the application of HBOT significantly improved hearing, but the clinical significance remains unclear […] There is no evidence of a beneficial effect of HBOT on chronic ISSHL or tinnitus and we do not recommend the use of HBOT for this purpose.”
„Bei Personen mit akutem Hörsturz verbesserte die HBO-Therapie signifikant die Hörfähigkeit, doch die klinische Bedeutung bleibt unklar […] Für den Nutzen der HBO-Therapie gegen chronischen Hörsturz und Tinnitus gibt es keinen Beleg, und wir empfehlen den Einsatz in dieser Indikation nicht.“
Der deutsche gemeinsame Bundesausschuss hat die Situation zuletzt im Jahr 2000 analysiert und als noch nicht ausreichend für eine Zulassung für die gesetzliche Krankenversicherung beurteilt. Private Krankenversicherungen und die Beihilfe übernehmen die Behandlungskosten in der Regel.
Auch der IGeL-Monitor des Medizinischen Dienstes Bund sieht die Studienlage kritisch und bewertet die Hyperbare Sauerstofftherapie beim Hörsturz mit „tendenziell negativ“.[98] Aus den wenig aussagekräftigen Studien lasse sich nicht erkennen, dass die Hyperbare Sauerstofftherapie den Hörsturz heilen könne oder ihn auch nur günstig beeinflusse. Deshalb sehe man keine Hinweise auf einen Nutzen. Dagegen berichteten Patienten vereinzelt über unangenehme Nebenwirkungen. Zudem sei der Wirkmechanismus spekulativ, da die Ursachen des Hörsturzes unklar sind. Der IGeL-Monitor stützt sich vor allem auf ein Cochrane Review von 2007. Das Fazit dieser Übersichtsarbeit: Es gebe keine Rechtfertigung für einen routinemäßigen Einsatz der HBOT, die Ergebnisse seien auf Grund der geringen Anzahl von Studien, der bescheidenen Zahl von Patienten sowie der methodischen Unzulänglichkeiten der Studien wenig aussagekräftig.[99]
In einzelnen Kliniken wird bei schwerem, therapieresistenten oder wiederkehrendem Hörsturz eine Tympanoskopie durchgeführt. Unter der Annahme, eine Ruptur der Rundfenstermembran sei für den Hörverlust verantwortlich, soll dieser Riss mittels eines Gewebelappens abgedichtet werden.[100] Kritische Stimmen bezweifeln die Zuverlässigkeit der diagnostischen Tests und betonen darüber hinaus die unbewiesene Wirkung der Operation auf das Hörvermögen.[101] In den aktuellen Behandlungsleitlinien wird die Tympanoskopie nur für besondere Einzelfälle empfohlen.[42]
Es gibt zunehmend Hinweise, dass ein Übermaß an freien Radikalen (oxidativer Stress) und ein damit einhergehender Mangel an Radikalfängern (Antioxidantien) wie beispielsweise Vitamin C eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Hörsturzes spielt. Denn diese Faktoren nehmen Einfluss auf Durchblutung und Entzündungen.[102][103] Eine koreanische Arbeitsgruppe (Kang u. a. 2013) untersuchte in einer prospektiven, randomisierten Studie im Zeitraum 08/2010 bis 08/2011 bei 72 Patienten mit Hörsturz (akuter idiopathischer sensorineuraler Hörverlust) die Wirkung einer Vitamin-C-Hochdosis-Infusionstherapie. 36 der 72 Patienten erhielten für 10 Tage zusätzlich zur 14-tägigen Glukokortikoidtherapie täglich eine Vitamin-C-Infusion (200 mg Vitamin C pro kg Körpergewicht) und anschließend für weitere 30 Tage täglich 2 g Vitamin C oral. Die Kontrollgruppe von 36 Patienten bekam ausschließlich Glukokortikoide. Nierenerkrankungen, Nierensteine, Diabetes, Vestibularisschwannom und Herzinsuffizienz gehörten zu den Ausschlusskriterien bei dieser Studie. Vor Therapiebeginn und nach ca. 4 Wochen wurde mittels Tonaudiometrie der Verlauf kontrolliert. Zu Therapiebeginn gab es keine bedeutenden Gruppenunterschiede hinsichtlich der demographischen und klinischen Werte. Patienten in der Vitamin-C-Gruppe profitierten nach 4 Wochen von einer deutlich besseren Hörempfindlichkeit. Die Hörbarkeitsgrenze in der Tonaudiometrie sank in der Vitamin-C-Gruppe von anfänglich 67.6 ± 19.8 dB auf 37.1 ± 28.8 dB, wohingegen die Verbesserung in der Kontrollgruppe von 70.3 ± 12.4 auf 47.6 ± 25.2 dB deutlich schwächer war (p = 0.030). In der Vitamin-C-Gruppe zeigten im Vergleich zur Kontrollgruppe signifikant mehr Patienten eine vollständige oder partiale Wiederherstellung (65,5 % versus 42 %, p=0.035). Die Anzahl der Patienten mit einer vollständigen Genesung war in der Vitamin-C-Gruppe mehr als doppelt so hoch (46,8 versus 23,8 %). Nach Ansicht der Autoren reduziert die Vitamin-C-Therapie den durch Ischämie und Entzündung induzierten oxidativen Stress im Innenohr.[104] Diese Studie ist ein erster Hinweis, dass Vitamin C, insbesondere bei Patienten mit einem Vitamin-C-Mangel, den Heilungsverlauf nach Hörsturz günstig beeinflussen könnte. Folgestudien, die diese Effekte weiter untersuchen, sind sicherlich notwendig, so dass zur Zeit noch keine Empfehlungen bzgl. einer Therapie ausgesprochen werden können.
Es existieren eine ganze Reihe anderer Therapiemöglichkeiten.[33] Die Tatsache, dass die Ursachen für einen Hörsturz nicht klar sind, bietet auch unseriösen Anbietern einen Raum zum Vertrieb ihrer Produkte oder Dienstleistungen. Zweifel sind insbesondere dann angebracht, wenn ein Anbieter behauptet, nur seine Therapie wirke, wenn über große Erfolge ohne Hinweis auf die hohe Selbstheilungsquote berichtet wird, wenn behauptet wird, man kenne nun die Ursachen für Hörsturz und wenn die angebotene Therapie zugleich für Tinnitus und Morbus Menière geeignet sein soll.
Seit 2009 darf in Deutschland im Rahmen der neuen Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL, Anlage III Nr. 24)[105] eine Hörsturzbehandlung mit dem Wirkstoff Pentoxifyllin nicht länger zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verrechnet werden. Der Grund hierfür ist die unbewiesene Wirkung des Arzneimittels. Obgleich Hydroxyethylstärke und Glucocorticoide im Gegensatz hierzu nicht ausdrücklich in der neuen Richtlinie genannt werden, muss ein Arzt aufgrund ihrer ebenfalls unbelegten Wirksamkeit mit Regressansprüchen durch die gesetzlichen Kassen rechnen, wenn er diese Medikamente zu ihren Lasten verordnet. Zudem besteht meist keine Zulassung/Indikationsnennung für die Hörsturztherapie (Off-Label-Use). Falls ein gesetzlich Versicherter dennoch eine Hörsturztherapie mit Pentoxifyllin, HAES oder Glucocorticoiden wünscht, muss diese Therapie in aller Regel privat verrechnet werden.[106]